Eine neue App bringt einfaches Live-Streaming für alle. Das eröffnet unerhoffte Blicke in die Privatsphäre wildfremder Menschen. Doch das Potenzial der Technologie ist noch nicht ausgeschöpft.

Aylin arbeitet in einer Frittenbude in Hamburg. Sie hat einen Bruder, der etwas kamerascheu ist und einen Vater, der auch ab und zu durchs Bild läuft. Ansonsten können wir Aylin beim Arbeiten zusehen. Wenn sie Zeit hat, beantwortet sie Fragen ihrer Zuschauer. Ausserdem verspricht Aylin, dich anzurufen, wenn du ihr bis um 18 Uhr deine Nummer auf ihr Instagram-Profil schickst. Was wie eine Reality-Show klingt, ist echter. Es ist das echte Leben, dem man ebenso echt und geschnitten zuschauen kann. Das ganze spielt sich auf «YouNow» ab, einer neuen App, die Live-Videostreams ermöglicht.

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Traumberuf Youtuber

Das ist wie Youtube, einfach live. So erklärt sich das neue soziale Netzwerk «YouNow» am einfachsten. Nur, dass hier die Szenen, die normalerweise rausgeschnitten würden, drinbleiben. Und dass eine Dramaturgie fehlt. Eine Art demokratisches, individualistisches Big Brohter.

Vor allem Teenager tummeln sich auf der Plattform und «broadcasten», also senden, ihr Leben in die weite Welt hinaus. Zuschauen kann jeder. Eine Anmeldung mit einem Benutzerkonto ist zwar möglich, aber nicht nötig, um zuzuschauen. Und natürlich funktioniert auch der unverzögerte Mitschnitt aus dem Leben der Anderen mit Daumen hoch und Kommentaren. Je mehr Likes, desto höher das Level auf der Plattform. Unter der Kategorie «trending» sieht man Younower, die steigende Like- und Abonnementenzahlen verzeichnen. Offenbar spielt sich dort etwas Spannendes ab.

Wer sich jetzt fragt, wieso man so was macht, weiss noch nicht, dass der heimliche Berufswunsch seines Kindes Youtuber ist((Dieses Thema ist in der Schweizer Illustrierten vom 2. März gut dargestellt. Ab Seite 44 wird die 13-Jährige Bea porträtiert. Sie will auch Youtuberin werden und dereinst ihr Geld damit verdienen)). Dass man mit einer Webcam und etwas Talent berühmt und reich werden kann, ist auch bis in die Kinderzimmer gesickert. Schliesslich sitzen hier die Hauptkonsumentinnen der Bilderflut, die das Internet tagtäglich hervorbringt.

Schlafzimmer-TV

Auf dem Vormarsch ist die Plattform vor allem in den USA und Deutschland. Hashtags wie #deutsch-boy oder #deutsch-girl signalisieren die Herkunft. Auch #schweiz findet sich immer häufiger. Der Blick, der sich durch die Linse des willigen Senders manchmal bietet, erinnert an den einer Überwachungskamera. Meist ist das nicht weltbewegend, oder eben so langweilig oder spannend, wie der Alltag der Personen, die das machen. Da passiert über vier Stunden vielleicht nichts, weil die Person gerade schläft. Trotzdem schauen sich das 50 Leute an. Auf spannenderen Kanälen schauen Tausende zu. Manchmal aber auch nur ein paar Vereinzelte, ganz intim im Schlafzimmer und mit Pyjama.

Meist werden von den Zuschauern auch dann die intimen Fragen gestellt, die auch mal ins Anzügliche abdriften können. Und natürlich bietet die bereitwillig ausgeführte Hausführung auch die Gelegenheit für illustre Gestalten, die Nachbarschaft auszukundschaften. Doch letzlich behält die filmende Person dabei die Macht darüber , wie viel sie von sich selbst  preisgeben will und auf welche Fragen sie aus dem Publikum eingehen will. Die Versuchung, sich für ein wenig Netzberühmtheit die Blösse zu geben, ist aber natürlich gross.

Big Brother in der Hosentasche

Eigentlich wäre die Plattform ja für Künstler gedacht, die live für ihr Publikum performen. Unkompliziert und gratis eine Veranstaltung zu filmen und zeitgleich ins Netz zu stellen, ist an sich eine revolutionäre Sache. Bis jetzt tummeln sich aber noch nicht viele Kreative auf der Plattform. Ob die App (für iOS und Android) auch in der Schweiz Fuss fassen wird, wird sich zeigen. Das voyeuristische Moment hat auf jeden Fall grosses Potential. YouNow übertrifft diesbezüglich den kontrollierten Einblick über Instagram oder Facebook bei weitem. Voraussichtlich wird die App auch nicht die einzige auf dem Markt bleiben. Die Grossen, Google und Facebook werden ihre jeweiligen Plattformen wohl bald auch Live-Video fähig machen.

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Neben der wachsenden staatlichen Überwachung im öffentlichen Raum muss also in Zukunft auch damit gerechnet werden, dass man sich in Echtzeit im Internet wiederfindet. Welche rechtlichen Konsequenzen diese Tendenz haben kann, kann noch nicht abgeschätzt werden. Aylin verrät ihren Zuschauern auf alle Fälle nicht, wie die Frittenbude ihres Vaters heisst. Dass es früher oder später aus ihrem offenherzigen Umgang mit ihren Profilnamen doch jemand rausfindet, ist gross. Ob das schlimm ist, eine andere Frage.

Tipps für Eltern?

Auch bei dieser Anwendung gilt: Verbote bringen nichts. Sollten Sie feststellen, dass ihr Kind YouNow nutzt, spechen Sie mit dem Kind über die erhöhten Sicherheitsanforderungen, welche das Medium Video stellt. Aufgrund der im Hintergrund vielleicht sichtbaren Klassenfotos, Poster oder anderweitigen Gegenständen kann die Identität ihres Kindes leicht „ergoogelt“ werden.

 

Hauptautor: Michael Kuratli

Kleine Ergänzungen: Joachim Zahn